Eine Woche zu Fuß mit dem Zelt durch die Hochebene Norwegens, und das im tiefsten Winter? Das war unser Plan. Ein Bericht darüber, warum es doch anders kam und wie wir trotz allem diese schöne und unglaublich spannende Reise zu unseren liebsten Abenteuern zählen.

Wie alles begann

Die Geschichte nahm ihren Anfang irgendwann im Herbst, in unserem Stammcafé in München, in dem wir uns zum Schreiben, Quatschen und Planen treffen. Plötzlich hing da diese Idee in der Luft, nur ein Hirngespinst, aber ein abenteuerreiches. Eine Reise nach Norwegen. Nein, mehr noch, eine Wanderung durch Norwegens Sommer. Sommer erschien uns leicht machbar. Und ist zu Fuß nicht immer der beste Weg, eine Region kennenzulernen? Aber es blieb eine Idee.

Einige Wochen später gingen wir wandern – die Idee der Norwegen-Wanderung nicht vergessen, aber in eine Schublade mit unzähligen anderen Ideen gepackt. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt hatte uns der erste Schnee dieses Winters in die Berge gelockt. Es schneite den ganzen Tag und dichter Nebel sorgte zeitweise für eine Sichtweite von nur einigen Metern. Ein Sperber kreuzte unseren Weg, ließ sich im Schneefall auf einem Ast vor uns nieder. Als sich der Nebel einmal kurz lichtete, wurden wir von einer Gämse weiter hangaufwärts beobachtet. In diesen Bedingungen, in tiefer, stiller Natur, legten wir schließlich eine Mittagspause ein. Und da kam uns ein Gedanke: So viel Schnee, so kalt, so menschenleer – das war perfekt!

Wir wollten mehr von dieser winterlichen Wildnis. Warum nicht die Reisepläne, die seit Wochen in unseren Köpfen herumgeisterten, vorverlegen? Wir waren uns sofort einig. Im tiefsten Winter spontan nach Norwegen, das wird unser Abenteuer. Der Winter bot sogar einen entscheidenden Vorteil: Anstatt noch größere und schwerere Rucksäcke als sonst zu tragen, könnten wir einen Teil der Ausrüstung auf Expeditionsschlitten hinter uns herziehen. Noch fehlten uns die Schlitten und ein Zelt. Und auch, wie wir dann unser loses Gepäck und zwei Schlitten am Flughafen aufgeben wollten, war uns noch schleierhaft. Aber aus der Idee wurde ein Plan, und jeder Plan muss irgendwo anfangen.

Die Route

Das Zeitfenster war schnell klar. Zwischen Terminen und Alltagsdingen ergab sich eine Woche Anfang Januar. Der tiefste Winter. Dann ging es um die Route. Wo konnten wir in einer Woche eine schöne Strecke schaffen, welche Route erfüllte alle Bedingungen? Auf der Suche nach der richtigen Gegend kamen wir schnell auf den Nationalpark Hardangervidda.

Die Hardangervidda ist eine Hochebene und liegt auf etwa 1.200 bis 1.400 m, mit einzelnen Spitzen darüber hinaus. „Vidda“ ist norwegisch für „Weite“ – das trifft es. Mit knapp 8.000 km2 ist die „Hardanger Weite“ die größte Hochebene Europas. Sie ist von Gewässern durchzogen und weitgehend baumlos, hat unendlich viele Wasserfälle und riesige offene Flächen. Aufgrund ihrer besonderen Lage bietet sie im Winter beinahe arktische Bedingungen, und das bei moderaten Temperaturen von durchschnittlich -2°C bis -12°C. Dadurch stellt die Hochebene das südlichste Verbreitungsgebiet vieler polarer Tiere dar, die wir zu finden hofften. In den baumlosen Weiten sind unter anderem Rentiere, Polarfüchse und Schneeeulen zu Hause. Am Plateaugletscher Hardangerjøkulen am nördlichen Rand der Ebene haben sich R. F. Scott und R. Amundsen unter diesen Bedingungen auf ihre Südpolexpeditionen vorbereitet. Das war genau das Richtige für uns. Der südlichste Punkt Europas, in dem Flora, Fauna und Klima der (Sub-)Arktis zu finden sind.

Als Route wählten wir die Strecke von Geilo nach Eidfjord. Geilo, ein kleines Städtchen etwas außerhalb der Ebene, erwies sich mit einer Busverbindung nach Oslo und laut Recherche zwei Campingplätzen als guter Startpunkt. Am zweiten Tag sollte es von dort auf die Hochebene gehen, wo wir dann kaum mehr Höhenmeter zurückzulegen hätten und unser Zelt offen aufschlagen könnten. Die folgenden Tage sollten uns parallel zur Panoramastraße, die beide Orte verbindet, nach Westen führen. Im Notfall wären wir niemals mehr als einen halben Tagesmarsch von Menschen entfernt, aber dennoch hätten wir nicht die Geräusche der Zivilisation in den Ohren, wo wir doch Tiere suchen, die Wildnis genießen und die Stille im Schnee hören wollten. Der Zielort Eidfjord liegt am gleichnamigen Fjord unterhalb der Hochebene. Von dort aus sollte uns ein Bus zurück nach Geilo bringen.

So planten wir also, unter diesen Bedingungen Anfang Januar 2024 auf Schneeschuhen mit Expeditionsschlitten und Zelt von Geilo im Osten nach Eidfjord im Westen zu laufen und damit die Hardangervidda-Ebene an ihrem nördlichen Ende, knapp unterhalb des Gletschers, zu queren. Soweit der Plan. Es sollte ganz anders kommen.

Zu Fuß durch Norwegen im Winter
Geilo liegt wunderschön am Hang oberhalb eines Flusses, der in seinem Lauf immer wieder kleinere und größere Seen bildet.

Vorbereitungen

Sechs Wochen Zeit zur Vorbereitung. Sechs Wochen, um zu zweit, ohne jemals eine mehrtägige Wintertour gemacht zu haben, ohne jede Erfahrung mit Schneeschuhen und Schlittentouren, eine Reise in arktische Gefilde vorzubereiten. Und selbstverständlich neben dem normalen Alltag im Studium und einer Abschlussarbeit. So viel vorweg: Wenn du etwas Ähnliches planst, solltest du dir mehr Zeit lassen und auch vorher alles unter möglichst ähnlichen Bedingungen testen. Oder du machst es wie wir: Eine verrückte Idee haben und einfach loslegen und improvisieren. Dann musst du aber Rückschläge in Kauf nehmen.

Das erste größere Problem, auf das wir stießen, war fehlende Zeit während der Tour. Im Januar sind die Tage in Skandinavien kurz. Etwa sechs, mit Dämmerung vielleicht sieben Stunden am Tag. Nur so lange hatten wir genug Licht. In diesem Zeitfenster mussten wir jeden Tag das Zelt und die Ausrüstung einpacken, eine möglichst große Etappe zurücklegen und das Zelt wieder aufbauen. Für die Gesamtstrecke von voraussichtlich etwa 70 bis 80 km hatten wir fünf ganze Tage Zeit – unter normalen Umständen ohne Probleme machbar, selbst mit den bereits eingeplanten Pausen zum Fotografieren und Filmen. Angesichts der kurzen Tage würde es jedoch knapp werden. Stirnlampenlicht reicht notfalls, um das Zelt in der Dunkelheit aufzubauen, aber nicht, um sich möglichst weit durch schneebedecktes, unbekanntes Gelände zu bewegen. Außerdem wussten wir nicht, wie tief der Schnee sein würde, wie gut wir mit Schneeschuhen oder auch ohne überhaupt vorankommen würden.

Mehrtägige Touren mit Fotoausrüstung sind immer eine Herausforderung – wenn du selbst fotografierst, kann du davon ein Lied singen. Eine Kamera, vielleicht auch eine zweite, dazu zwei oder drei Objektive, darunter ein Tele, vielleicht noch kleines Zubehör, und schon ist der Rucksack voll. Dabei fehlen die wichtigsten Ausrüstungsteile noch.

Bei früheren Mehrtagestouren hat sich bei uns folgende Gepäckaufteilung bewährt: Ein Rucksack ist der Fotorucksack. Darin hat der größte Teil der Fotoausrüstung Platz sowie etwas Kleinkram (Karten, Kompass, Satellitenempfänger…), Proteinriegel und eine große Wasserflasche sowie meistens eine kleine Luftmatratze. Ein Schlafsack lässt sich mit Karabinern dranhängen, ebenso die Seile. Der andere Rucksack ist ein großer Wanderrucksack. Darin sind neben dem Schlafzeug für die andere Person das Zelt, Essen und Kochgeschirr für uns beide. Zum Essen hatten wir vor allem etwas Brot dabei und zwei Sorten von Couscous mit Gemüse. Letzteres hat, trocken in Tüten abgefüllt, den Vorteil, dass man erstens nur noch heißes Wasser hinzugeben muss und zweitens mangels Flüssigkeit in der Tüte der Gefrierpunkt deutlich herabgesetzt ist.

Neben den Rucksäcken hatten wir nun den Vorteil, Gepäck auf die Schlitten auslagern zu können, die sich im Schnee selbst schwer beladen leicht ziehen lassen. Auf ihnen war aber vor allem das zusätzliche Gepäck für diese Wintertour verstaut, unter anderem die Schneeschuhe, kleine Schaufeln und zwei faltbare Solarpanels. Diese waren wichtig, um tagsüber Akkus aller Art laden zu können – Kameras und andere strombetriebene Fotoausrüstung, Stirnlampen, Satellitenempfänger und Handys im Notfall sowie Powerbanks, um auch nachts ein wenig Strom zu haben.

Die Anfahrt

Als es endlich so weit war, schien uns die Zeit so schnell verflogen. Waren wir wirklich bereit, hatten wir alles? Am Abend brachten wir bereits die Schlitten als Sperrgepäck zum Flughafen, und früh am nächsten Morgen stiegen wir in die Maschine nach Oslo, mit uns nur Norweger auf dem Heimweg und einige ambitionierte Wintersportler. Zu Hause lag kein bisschen Schnee, in Oslo dagegen erwartete uns eine tief eingeschneite Winterlandschaft – und dennoch ein funktionierender Flughafen und pünktliche Züge und Busse. Nachdem wir endlich unser Sperrgepäck gefunden und Bargeld gewechselt hatten, verließen wir den Flughafen in Richtung Bahnhof. Draußen schlug uns eine Eiseskälte entgegen: Mitten am Tag hatte es trotz blauem Himmel und strahlender Sonne nur -11°C. Den Temperaturaufzeichnungen der letzten Jahre zufolge sollte das eher die untere Temperaturgrenze während unserer Reise sein. Und wir waren noch auf Meereshöhe, nicht in den Bergen. Zeit für die Handschuhe und eine weitere Jackenschicht.

In der ersten Etappe fuhren wir mit dem Zug nach Kongsberg. Unterwegs blickten wir fasziniert und beeindruckt aus dem Fenster – draußen zogen verschneite Einöden vorüber, malerische Landschaften, wie aus einem Bilderbuch. Die inneren Fjorde waren fast gänzlich zugefroren, so etwas hatten wir noch nie gesehen. In Kongsberg zeigte das Thermometer schon -14°C an, Tendenz weiter fallend. Dann der Bus nach Norden, in Richtung Geilo. Wir ließen die Fjordzungen hinter uns, passierten Felder und Hügel, während wir in immer höhere Lagen kamen, Flüsse und Seen, Wälder und Wasserfälle und irgendwann die ersten bergigen Ausläufer der Hochebene. Da neigte sich die Dämmerung schon ihrem Ende. Als wir Geilo gegen 19 Uhr erreichten, war es schon längst dunkel. Und noch kälter: -23°C waren es zu diesem Zeitpunkt.

Nun stand der erste Praxistest für die Schlitten bevor. Vom Ortszentrum machten wir uns auf den Weg zu einem weiter draußen liegenden Campingplatz, auf dem wir die erste Nacht verbringen wollten. Das hatten wir von Anfang an so geplant, weil wir wussten, dass wir erst im Dunkeln ankommen würden. So sparten wir uns die Suche nach einem geeigneten Ort, um das Zelt in der Natur aufzustellen, was bei Kälte und Dunkelheit in einer unbekannten Gegend ein schwieriges Unterfangen ist. Knappe 2 km waren es zum Platz, teils bergauf, teils bergab, überall mit viel Schnee. Eine gute Teststrecke für die Schlitten. Auf dem Weg probierten wir verschiedene Varianten aus, wie wir das Zugseil am besten an den Klettergeschirren oder Rucksäcken festmachen könnten. Die Bewegung hielt uns war und wir merkten nicht, wie die Temperatur immer weiter fiel. Schließlich kamen wir am Campingplatz an. Außer den Straßenlaternen leuchtete nichts, und wir fürchteten fast schon, er sei nun doch geschlossen, wie alle anderen Campingplätze hier im Winter. Wir klingelten an der Rezeption. Einmal, zweimal, standen unschlüssig in der schneidenden Kälte. Dann ging endlich ein Licht an und ein Mann sperrte die Tür des kleinen Raumes auf.

Von Ausrüstungsversagen und Improvisation

„Was, zelten wollt ihr?!“, fragte er uns entgeistert auf Englisch. Wir nickten fröstelnd und antworteten, dass wir gut vorbereitet seien. Er wollte uns erst nicht glauben, doch wir bestanden auf einen Zeltplatz. Der Besitzer war überrascht, aber sehr freundlich. Er zeigte uns auf einem Plan am Tresen – nach draußen gehen wollte er auf keinen Fall –, wo wir das Zelt aufbauen konnten. Wenn wir es uns doch anders überlegen, wenn es uns zu kalt wird, sollten wir einfach klingeln, sagte er. Die genaue Temperatur nahmen wir gar nicht mehr zur Kenntnis, es gab nur noch die Tatsache „es ist kalt“. Wir wollten etwas Warmes essen und schlafen, Temperatur und Uhrzeit waren nur Zahlen, eine Randnotiz. Wir hatten Arbeit zu tun.

Draußen angekommen verstanden wir, was der Besitzer gemeint hatte: Kein normaler Mensch will mitten im Winter in Norwegen zelten. Die Wiese, die vom Licht der Straßenlaternen kaum erreicht wurde, war unter einer dicken Schicht Schnee begraben. Im Licht der Stirnlampen begannen wir zunächst mit unseren kleinen Handschaufeln zu arbeiten – bei einer größeren Fläche mit kniehohem Schnee ein Ewigkeitswerk. Es war kalt, die Sonne war weg, wir bewegten uns nicht mehr viel und mussten dringend in das isolierte Zelt, um uns warmzuhalten und wieder aufzuwärmen. Wir versuchten, die Schlitten als Walzen zu verwenden, um damit aus dem hohen, lockeren Pulverschnee eine niedrige Schicht festen Schnee zu machen, auf dem wir das Zelt aufbauen könnten, ohne einzusinken. Doch die Expeditionsschlitten sind im Grunde nur Plastikwannen, die leicht über Schnee gleiten und sogar schwimmen können. Viel zu leicht, um den Schnee flachzudrücken. Wir nahmen einen der Schlitten und drückten mit dem eigenen Körpergewicht darauf. Den größten Teil der Fläche mussten wir schlussendlich aber mit unseren Füßen platttrampeln.

Als das geschafft war, fingen wir mit dem Zelt an. Von den zwei Bootsplanen, die wir gekauft hatten, um tagsüber die Schlitten damit abzudecken, legten wir eine als zusätzliche Isolationsschicht unter das Zelt. Die zweite war frei, um sie am Ende über das Zelt legen zu können, ebenfalls für weitere Isolierung. Das Gestänge des Zeltes fühlte sich trotz dicker Handschuhe an wie aus dem Gefrierfach. Kein Wunder – die Außentemperatur war bereits niedriger als in den meisten Gefrierfächern. Das Zelt selbst war schnell aufgebaut, trotz mancher Schwierigkeiten, die Plane im Dunkeln zu entwirren. Beim Abspannen dann das nächste Problem, daran hatten wir nicht gedacht: Wie sollten wir die Heringe mit ihrem stumpfen Ende in den gefrorenen Boden kriegen? Typischerweise verwendet man dafür erstens einen Stein oder Hammer, den wir nicht hatten, und zweitens zugespitzte Heringe. Mit etwas Mühe schafften wir es, sie in den Boden zu treten. Manche Heringe steckten wahrscheinlich nur im Schnee, aber es ging kein starker Wind. Nun konnten wir endlich in das Zelt kriechen. Zum Aufwärmen wollten wir Tee machen und das Abendessen – Couscous mit Gemüse – kochen.

Zuerst brauchten wir dafür Wasser. Ein Vorteil an Wintertouren: Es ist überall. Du hast immer genug Wasser um dich herum, ohne es mitschleppen zu müssen. Wir füllten unseren Kochtopf mit Schnee und stellten ihn im Zelt auf einen Teekannenwärmer mit Kerzen darin. Zuhause hatten wir diese Methode getestet, mit dem Ergebnis, dass die Kerzen das Wasser ausreichend erhitzt hatten. Dann packten wir die Luftmatratzen aus, wickelten uns in die Schlafsäcke und warteten.

Nun wurden uns mehrere zusammenhängende Probleme fast zeitgleich klar. Weil frischer Pulverschnee eine sehr lockere Struktur und viel geringere Dichte als Wasser hat, hinterließ der kleine Kochtopf voll Schnee kaum mehr als einen Fingerbreit Wasser. Das war uns vorher klar gewesen, bedeutete nun aber, dass wir immer wieder den schützenden Schlafsack und das Zelt verlassen mussten, um in die Eiseskälte zu gehen und mehr Schnee zu holen. Außerdem wollten wir eigentlich im Zwischenbereich des Zeltes kochen, zwischen der inneren und äußeren Plane. Ein Kompromiss – dort könnten die Dämpfe abziehen, aber es war wärmer als direkt unter freiem Himmel. So der Plan. Die Temperaturen brachten uns jedoch dazu, uns ins Innere zurückzuziehen.

Währenddessen wurde es immer kälter. Wir wussten nicht, wie kalt genau, aber die Temperatur war seit unserer Ankunft noch weiter gefallen. Wir waren nach dem Zwiebelprinzip dick angezogen; uns war grundsätzlich klar, was uns in Norwegen im Winter erwartet. Mehrere Schichten Ski-Unterwäsche, Jacken, warme Socken, Handschuhe, Mützen, bis zu sieben Schichten übereinander. Für unterwegs reicht das. Im Liegen oder Sitzen, ohne die Bewegungswärme, wird es jedoch schnell kalt. Angesichts der langen Dunkelheit und der damit einhergehenden langen Ruhephase, war eine Überlegung in der Planung gewesen, in Schichten abwechselnd zu schlafen und uns in den Wachphasen an ein Lagerfeuer zu setzen. Das ging aber auf dem Campingplatz nicht, zumal wir noch kein Holz hatten. Tee und warmes Essen könnten uns von innen aufwärmen. Das Wasser wurde aber einfach nicht heiß. Das Problem: Zu Hause hatten die kleinen Kerzen gereicht, theoretisch sogar eine, um mit etwas Zeit das Wasser zu erhitzen. Hier aber war die Umgebungsluft viel zu kalt dafür – auch im Zelt, das wir ja erst lange nach Sonnenuntergang aufgeschlagen hatten. Die Isolation des Zeltes war nicht schlecht, aber nicht ausreichend, wenn wir darin nicht bald für Wärme sorgten. Die Luft kühlte das Wasser und den Topf stärker, als die Kerzen sie wärmen konnte. Noch mehr Kerzen anzuzünden, wagten wir nicht. Im Inneren gab es keinen Abzug, das Zelt würde sich langsam, aber stetig mit Kohlenmonoxid füllen.

Auch die eigene Körperwärme wärmte das Zelt nicht um mehr als ein paar wenige Grad auf. Um uns wenigstens einigermaßen warm zu halten, lagen wir in den Schlafsäcken. Nur waren sie nicht für diese Verhältnisse ausgelegt. Vom Hersteller getestet und zugelassen waren sie für Temperaturen um den Nullpunkt und darüber, mit einem Risikobereich bis zum unteren Extrem bei -6/-8°C. Normalerweise hätte das in Kombination mit der warmen Kleidung gereicht, heute aber war diese Grenze schon weit unterschritten und die Schlafsäcke ausgekühlt. Die Luftmatratzen sollten als eine weitere Isolierungsschicht zwischen uns und dem Boden dienen. Stattdessen waren sie nur dünn, steif und kalt. Die Luftmatratzen waren halb gefroren, vermutlich sogar schon seit dem Fußweg zum Campingplatz, wo sie nur von den Bootsplanen bedeckt in den Schlitten gelegen hatten. Die Ventile waren zugefroren und die Matratzen gingen nicht auf. Im Nachhinein betrachtet, wären für diese Temperaturen klassische Isomatten besser gewesen, aber mit diesen Temperaturen war nicht zu rechnen gewesen. Es wurde immer kälter, im Zelt wie draußen. Das Wasser wurde kaum lauwarm und alle Isolierung half nicht.

Planänderungen

Wir überlegten hin und her, die meiste Zeit im Stillen. Der Zeitplan war straff. Einen Tag Verzögerung konnten wir uns nicht leisten, wenn wir es bis nach Eidfjord schaffen wollten. Theoretisch könnten wir auf das Angebot des Besitzers des Platzes zurückkommen, in eine Hütte umziehen und am nächsten Morgen trotzdem wie geplant aufbrechen. Gleichzeitig war uns klar, dass die Temperaturen sehr wahrscheinlich nicht plötzlich nach oben schießen würden. Wenn wir es jetzt nicht schafften, würden wir es auch in der nächsten Nacht nicht schaffen. Dann wären wir aber schon zu weit entfernt, um uns spontan umzuentscheiden. Wir waren hin- und hergerissen.

Noch etwa eineinhalb Stunden hielten wir durch. Dann zogen wir die Reißleine und klingelten an der Rezeption. Nur für eine Nacht zunächst, sagten wir. Wir würden hier nicht unsere Leben aufs Spiel setzen. Der Besitzer war immer noch sehr freundlich, kein Wort von „ich habe es ja gesagt“. Er zeigte uns eine kleine Hütte, die frei und bezugsfertig war. Wir bepackten einen der Schlitten mit dem Nötigsten und mit den empfindlichen Geräten und zogen in die Hütte um. Den zweiten Schlitten und das Zelt ließen wir stehen, das konnte bis zum Vormittag warten, dann hätten wir wenigstens Tageslicht zum Abbauen.

Es war eine Holzhütte mit zwei Betten, einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen und einem kleinen Sofa, außerdem mit fließend Wasser und einer funktionierenden Herdplatte. Von draußen trennten uns nur die dünnen Holzwände, mehr Isolierung gab es nicht. Durch Türspalte drang der Frost ein, das Schloss war bereits tiefgefroren. Den Schlüssel nutzten wir deshalb später gar nicht mehr, aus Angst, er könnte im Schloss abbrechen oder einfach steckenbleiben. Ungeheizt hatte es vielleicht +5°C. Es war nichts Großartiges, für uns aber fast schon Luxus und in jedem Fall ein riesiger Unterschied zu unserem halb gefrorenen Zelt. Einen Heizstrahler gab es dazu. Er schaffte es, die Hütte wenigstens auf knapp zweistellige Temperaturen zu bringen. Für die Nacht mussten wir ihn abstellen, schliefen in fast voller Kleidung im Schlafsack. Eine gute Entscheidung, denn die Hütte war vor allem an der Tür derart undicht, dass es schon nach ein bis zwei Stunden wieder nur wenige Grad über Null waren. Bevor wir endlich schliefen, genossen wir im Kerzenschein unser Abendessen und einen wirklich heißen Tee. Ein guter Tipp für Reisen draußen in der Kälte: Nimm genug Tee mit. Du willst in der Kälte nur heiße Getränke, und heißes Wasser ohne Geschmack ist auf Dauer kein Spaß. Wir tranken letztlich die ganze Woche fast nur Tee.

Am nächsten Morgen erzählte uns der Besitzer, die Wetterstation hier im Tal habe in dieser Nacht -38,5°C gemessen. Mehr als 70°C unter der menschlichen Körpertemperatur – im Zelt schlafend wären wir einfach ausgekühlt und erfroren und hätten es nicht einmal mehr gemerkt. Die Medien in ganz Europa berichteten an diesem Tag von der Nacht des 04.01.24, der ersten Nacht unserer Tour, die wir fast im Zelt verbracht hätten. Die kälteste Nacht in Norwegen seit 25 Jahren. Ein anhaltender Nordwind brachte eisige Rekordtemperaturen nach ganz Skandinavien, vielerorts wurde die -40°C-Marke geknackt. In den nächsten Tagen wurde es kaum wärmer, selbst tagsüber stieg die Temperatur nur selten auf über -30°C. Wir hielten uns alle Optionen offen, überlegten jeden Tag aufs Neue, was möglich war, blieben aber schlussendlich für die ganze Woche unserer Reise in dieser Hütte. Zumindest für die langen, dunklen Nächte. Während der Sonnenstunden packten wir uns dick ein und erkundeten in der Kälte eine für uns ganz neue, subarktische Landschaft aus Schnee und Eis.

Winter-Wandertour durch Norwegen mit Zelt
Eingepackt und vollgepackt auf den Loipen um Geilo – nur mit halbleeren Schlitten, weil viel Gepäck jetzt in der Hütte lag.

Neue Pläne – das Abenteuer geht weiter

Die geplante Tour starb in dem Moment, als wir uns entschieden, auch die zweite Nacht in der Hütte zu verbringen. In den Sommermonaten wäre ein Ausweichplan möglich gewesen, dann fahren Busse von Geilo nach Eidfjord. Jetzt im Winter war die Straße zwar offen für Autos, die Busse fuhren aber von Geilo aus nur noch ein paar Kilometer nach Westen bis zu einem anderen See, dort war Endstation. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, wie man so schön sagt, und somit freuen wir uns auf die nächste Zeit hier“, schrieben wir in das Reisetagebuch. Und so vermerkten wir, unsere Route ein andermal erneut zu versuchen, und machten uns auf, die Umgebung von Geilo zu entdecken.

Da der Ort ein beliebtes Skigebiet ist, finden sich rundherum am See vorbereitete Loipen. Wir nutzten sie, um ohne die üblichen Tiefschneeprobleme am See entlangzulaufen. Und sogar bei diesen eiskalten Temperaturen trafen wir auf einige Langläufer. Neben den Loipen fanden wir zahlreiche Spuren von Tieren. Oft waren es kleinere Spuren, die vor allem zu Schneehasen zu gehören schienen, mal sah es nach größerem Wild aus. Wir gingen fast jeden Morgen hier entlang, hielten schon in der Dämmerung angestrengt Ausschau, fanden aber nur einen Buntspecht, zahlreiche Elstern und Meisen. Auf einer Brücke blieben wir oft stehen. Unter uns bahnte sich das Wasser eines kleinen Flusses fast schwarz einen Weg durch die Eisplatten, die sich am Rand gebildet hatten und immer weiter in die Mitte streckten.

Fotografie im Winter in Norwegen
Unser Lieblingsort jeden Morgen – schwarzes Wasser, weißer Schnee und dahinter der Sonnenaufgang.

Am zweiten Tag verbrachten wir den ganzen, kurzen Nachmittag am Fluss. Zu lange konnten wir aber nicht an einer Stelle stehen, ohne Bewegung und bald auch ohne Sonne wurde es schnell zu kalt. Zuerst begannen meist die Zehen zu frieren, trotz warmer Socken und gefütterter Stiefel. Im Tagebuch steht bereits am zweiten Tag der Eintrag: „Unsere Haare und Wimpern frieren ein. […] Wie oft kann man so etwas in ein Reisetagebuch schreiben?“ Wir würden es noch oft tun. Auf dem Rückweg leuchtete uns eine farbenprächtige Dämmerung entgegen, die wir eine Zeit lang von einer kleinen Straßenbrücke aus genossen.

Rauchende Seen

Die weiteren Nachmittagsziele waren im Wesentlichen von den Busfahrplänen bestimmt. Wohin uns einer der wenigen Busse bringen konnte, da ging es hin. Eine Tour führte uns nach Hagafoss, ein Stück nordöstlich von Geilo. Schon auf der kurzen Fahrt zogen hinter den beschlagenen Fenstern wieder überwältigende Landschaften an uns vorbei. Riesige weiße Felder, bei denen man gar nicht sagen konnte, welche davon Wiesen und welche Seen waren, umrahmt von Bergketten unter blauem Himmel und beleuchtet von einer goldenen Sonne, die das ganze Tal glänzen ließ. In Hagafoss angekommen, wanderten wir an einem See entlang. Dieser erstaunte uns gleich mehrfach: Im Gegensatz zu den meisten anderen Gewässern, zumindest den stehenden, war dieser See zu großen Teilen gar nicht zugefroren. Als wir weitergingen, merkten wir, dass die Sicht nicht klar war. Über dem See hing ein tiefer Nebel, nein, eigentlich sich bewegende Wolken. Dampf, der vom See aufstieg. Die tiefe Sonne sorgte für eine Aussicht wie ein Gemälde. Goldene Dampfschwaden zogen über die Wasseroberfläche, dort, wo sie nicht gefroren war.

Was wir hier sahen, wird im Volksmund auch als „rauchende Seen“ bezeichnet. Der Grund dafür ist dasselbe Prinzip, das im Winter unseren Atem sichtbar werden lässt – nur in sehr viel größer. Wissenschaftlicher gesprochen nennt man dieses Phänomen „Verdunstungsnebel“. Vereinfacht gesagt entsteht er, wenn die Luft erstens einigermaßen trocken und zweitens deutlich kälter als das Wasser ist. Das gibt es dementsprechend auch regional in Deutschland, aber seltener und meist nicht so stark. Nur an besonders kalten Tagen ist die Temperaturdifferenz zwischen Wasser und Luft groß genug, damit der Effekt für uns gut sichtbar wird. Noch mehr Differenz braucht es, damit der Nebel auch auf der Kamera sichtbar wird. Bei der Differenz von 30 bis 40°C, die wir die meiste Zeit hatten, waren Fotos möglich.

Als wir weiterliefen, bemerkten wir auch, dass der See voller Leben war. Auf dem Wasser schwammen im goldenen Nebel Schellenten, und ganz nah am Ufer saß eine Wasseramsel auf dem Eis und fühlte sich in der Kälte pudelwohl. Sie tauchte immer wieder in den See und kam schließlich mit einem kleinen Fisch wieder hervor. Mit ihrer Beute ließ sie sich dann alle Zeit der Welt.

Am Tor zur Hochebene

Die Landschaften, die wir eigentlich sehen wollten und die wir mit dem Abbruch der Tour nach Eidfjord nun verpassen würden, geisterten als ständiger Gedanke durch unsere Köpfe. An den letzten beiden Tagen fuhren wir schließlich so weit nach Westen, wie der Bus uns brachte, und wanderten dort umher, wo die eigentliche Hardangervidda erst beginnt.

Zuerst ging es hinab zu einem großen See, der das ganze Tal einnahm. Es war gänzlich anders als in Hagafoss: Der See war vollständig tiefgefroren, bedeckt von teils meterdickem Packeis, darüber lag tiefer Schnee. Wir wagten einen Spaziergang. Vorsichtig setzten wir einen Fuß vor den anderen, auf der Suche nach festerem Schnee, traten oft mehrfach auf eine Stelle, bevor wir mit Gewicht darauf stiegen. Bei jedem Schritt sanken wir ein, teils knietief. Der Schnee war so hoch, dass wir den Untergrund nirgends sehen konnten. Tiefer Schnee und darunter Eis. Auf Wasser. Eis entsteht auf großen Wassermassen nicht als eine Platte über dem ganzen See, sondern in vielen kleinen Stücken. Dieses sogenannte Pfannkucheneis bildet sich als Erstes, bevor daraus festere, dickere Schollen entstehen. Aber auch dann bleiben es immer Einzelteile, die schon durch kleinste Wasserbewegungen, ob durch Wind oder Unterwasserströmungen oder weil am Ufer etwas ins Wasser fällt, in Bewegung geraten. Es ist Plattentektonik im Kleinen: Innerhalb von Tagen oder sogar Stunden entstehen Gebirge und Risse. Für uns hieß das: Auch, wenn wir sie nicht sahen – irgendwo unter dem Schnee waren zwischen dem festen Eis jede Menge Spalten. Meistens keine großen, aber eine ständige Gefahr für unsere Knöchel. Ein falsches Auftreten, ein unkontrolliertes Abrutschen konnte schwere Folgen haben. Prompt schafften wir es auch beide, in einer kleinen Spalte stecken zu bleiben – glücklicherweise wenigstens nicht gleichzeitig. Mit der Zeit wurden wir sicherer, fanden Pfade mit festem und weniger tiefen Schnee und verbrachten einige Zeit auf dem Eis.

Das zweite „Projekt“ waren die Berge. Uns lockte die schwache Hoffnung, von weiter oben vielleicht einen Blick auf den Gletscher, den Hardangerjøkulen, zu werfen. In diese Richtung erhob sich oberhalb der Straße ein Bergkamm, der etwa 180 m über uns ragte und sich ringsherum zog. An manchen Stellen begann der Hang recht gemächlich, und kleine Hütten zogen sich die ersten Höhenmeter hinauf. An anderen Stellen fiel der felsige Kamm steil ab, manchmal fast senkrecht. Im Sommer mussten die Steilwände voll von dutzenden kleinen und größeren Wasserfällen sein. Jetzt aber war es so kalt, dass sie gefroren waren. Kein Wassertropfen regte sich mehr und lief den Hang hinunter, stattdessen schimmerten riesige blaue Eiszapfen vor dem dunklen Fels.

Gefrorener Wasserfall in Norwegen

Im Vergleich zu den Alpen in unserer Heimat waren Die Erhebungen aber doch eher Hügel als Berge, und so wagten wir ein weiteres Abenteuer und begannen ohne entsprechende Vorerfahrung, einen weitestgehend baumfreien, tief eingeschneiten Hang hinaufzusteigen. Anfangs lief es gut. Ein schmaler Trampelpfad zu einigen Hütten brachte uns erste Höhenmeter und Ausblicke über die Zugstrecke und die Straße am gefrorenen See, über das gesamte Tal. Oberhalb der letzten Hütte wurde es schwieriger. Im lockeren Tiefschnee sanken wir sofort knietief bis teils sogar hüfttief ein. Wir kämpften uns vorwärts, aber Bergsteigen ohne festen Untergrund ist eine Kunst für sich. Immer schwerer kamen wir voran, mussten uns einen eigenen Pfad festtreten. Ständig rutschten wir ab, hatten Mühe, sicheren Tritt zu finden. Trotz der anhaltenden Eiseskälte kamen wir hier zum ersten Mal leicht ins Schwitzen. Bald schon war es eher ein Hinaufkrabbeln auf Händen, Füßen und Knien. Neben uns sahen wir Tierspuren, die es den Hang hinaufgeschafft hatten. Wenn wir nicht aufpassten, würden wir von Kopf bis Fuß in den Schnee hineinfallen. Darüber brachen wir zwischendurch in Gelächter aus, weil es einfach zu dumm aussah. Wir waren leider weniger elegant als die Tiere, die den Weg vor uns gegangen waren. Versuche nie, dich mit Bergwild im Bergsteigen zu messen! Irgendwann ging es fast vertikal hinauf, und wir teilten uns auf, konnten das nicht beide schaffen. Nur ohne schweres Gepäck und ganz langsam ging es hier noch vorwärts.

Von ganz oben sah die Welt ganz anders aus. Zunächst einmal war da plötzlich ein ziehender Wind, den es im Tal nicht gab und der es sofort kälter werden ließ. Doch das, was es so besonders machte, war die Aussicht in Richtung der Hochebene. Nun war es möglich, auf die andere Seite zu sehen, die vorher durch den Bergrücken versperrt gewesen war. Dort erstreckte sich eine Landschaft, von der wir sofort verstanden, weshalb die Rentiere sie ihr Eigen nennen. Unter dem Schnee ließ sich eine steppenartige und gleichzeitig vielfältige Weite erahnen. Auf dem Kamm und in Richtung der Ebene wucherten selbst jetzt im Winter so viele Krähenbeeren, dass eine ganze Herde davon satt werden würde. Die Krähenbeeren schmeckten leicht süßlich, und der Frost, der seine schützende Schicht um sie gelegt hatte, verlieh dem Geschmack eine starke Eiswürfelnote.

Rentiere selbst sahen wir leider nicht, nur die Spuren verrieten uns, dass sie kürzlich hier gewesen sein mussten, vielleicht erst gestern. Auch den Gletscher sahen wir nie, dafür versperrten zu viele Bergketten, höher noch als unsere, die Sicht. Der Abstieg ging schnell. Genauer gesagt war es eher eine halbwegs kontrollierte Rutschpartie, ein kontrollierter, aufrechter Abstieg auf Füßen war hier kaum möglich.

Abschied

Nachdem wir am letzten Tag noch neue Bekanntschaften mit Menschen und Hunden geschlossen hatten, mussten wir Abschied nehmen. Die Woche war wie im Flug vergangen. Früh am Morgen stiegen wir in den Bus, sahen dieselben Landschaften wie auf der Hinfahrt, diesmal in der Morgendämmerung. In den Städten war es wärmer geworden und wo Schnee auf den Straßen und Wegen lag, wurde gestreut. Für viele Abschnitte mussten wir die Schlitten tragen, weil wir sie ohne Schnee oder auf Kies nicht ziehen konnten. Unsere letzte Station war Oslo, von wo am nächsten Tag der Flug gehen würde. Nachdem wir ein kleines Zimmer für die Nacht bezogen hatten und erstmals nach einer ausgiebigen Dusche wieder in frische, weniger dicke Kleidung schlüpfen konnten, unternahmen wir zum Abschluss einen abendlichen Spaziergang durch Oslo. An diesem Tag, am Hafen von Oslo, erlebten wir einen der schönsten Sonnenuntergänge, die wir je gesehen hatten. Frische Schollen von Meereis bedeckten die Hafenbucht, wogten mit den Wellen und leuchteten in der Abendsonne. Daneben schaukelten Segelschiffe im Wind, und auch die Wolken nahmen die unglaublichen Farbtöne auf. Zuerst legte sich ein helles Orange über die ganze Szenerie. Als nächstes ein sattes Lila, noch viel stärker als das Orange, und dann plötzlich alle erdenklichen Farben dazwischen. Gelb, rot, pink, rosa, und mit jeder Sekunde, die sich der Himmel weiter verdunkelte, wurde es schöner und schöner. Nach den ausgebliebenen Tieren und auch Polarlichtern, nach denen wir Ausschau gehalten hatten, war das nun eine unglaubliche Krönung dieser Reise. Als wir am nächsten Tag in das Flugzeug stiegen, wussten wir bereits, dass wir wiederkommen würden.

Fotografie unter arktischen Bedingungen

Zum Schluss haben wir einige Tipps und Hinweise für dich zum Fotografieren unter diesen extremen Bedingungen. Das betrifft nicht nur die Ausrüstung, sondern zuallererst auch die Person hinter der Kamera. Um eine Kamera zu bedienen, brauchst du deine Hände, und die musst du warmhalten. Nun gibt es die viel beworbenen Fingerhandschuhe mit abklappbaren Fingerkuppen für Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger. Bis vielleicht -10°C, wenn es nicht auf Dauer ist, sind sie sehr praktisch, aber darunter stoßen sie auf ihre Grenzen. Bei mehreren Stunden draußen – bei Zelttouren noch viel mehr – mit einer Lufttemperatur von unter -30°C sollten die ungeschützten Finger möglichst nie der Luft ausgesetzt sein, erst recht nicht im Fall von Niederschlag. Grundsätzlich halten Fäustlinge wärmer als Fingerhandschuhe, weil keine kalte Luft zwischen den Fingern ist. Damit lässt sich aber keine Kamera bedienen. Zum Fotografieren gibt es zwei Möglichkeiten: Du kannst spezielle Fingerhandschuhe tragen, bei denen sich ein zusätzlicher Schutz wie bei Fäustlingen über die Finger ziehen lässt, wenn du gerade nicht fotografierst. Oder – so haben wir es gemacht – du trägst möglichst warm gefütterte Fingerhandschuhe und lernst, die unterwegs wichtigsten Funktionen der Kamera auch so zu bedienen. Der Gewöhnungseffekt stellt sich schnell ein.

Fotografieren in extremer Kälte Tipps
Fotografieren in extremer Kälte – eine Herausforderung für Mensch und Technik.

Folgende Fotoausrüstung haben wir auf unserer Reise benutzt und uns im Vorfeld bereits gefragt, ob sie bei arktischen Temperaturen überhaupt funktionieren würde:

  • Kameras: Canon EOS 90D und Canon 6D Mark II
  • Objektive: Sigma 150-600mm f/5-6.3 Contemporary für den Telebereich, Canon EF 24-105mm f/3.5-5.6 für den Standardbereich und Irix 15mm f/2.4 Firefly für den Weitwinkelbereich
  • Zubehör: u.a. DJI RS 2 Pro Combo Gimbal, Tiltall Reisestativ TC-254 aus Carbon mit Tiltall Kugelkopf BH-20, Kabelfernauslöser von Rollei

Für Kameras und Objektive nennen die Hersteller meist 0°C als untere Betriebsgrenze, so auch etwa bei der 90D. Vom Hersteller angegeben ist jedoch schlichtweg nur der in der Produktion getestete Bereich, die Grenzen haben versicherungstechnische Gründe. Tatsächlich sind niedrige Temperaturen für die Kameras und auch für die Objektive generell kein Problem. Selbst bei -35°C funktionierte alles noch einwandfrei. Für das Tele hatten wir eine Neoprenummantelung, die es durch Isolierung etwas resistenter gegen Niederschläge und Kälte macht. 

Lediglich die empfindlicheren elektronischen Teile können bei derartigen Temperaturen Schwierigkeiten machen. Bei älteren Objektiven kann schon bei wenigen Grad Minus nach einiger Zeit der Autofokus ausfallen. Vor allem aber sind die Akkus betroffen. Akkus (und Speicherkarten) solltest du bei Kälte immer möglichst nah am Körper tragen, am besten in der Innentasche einer Jacke. Dadurch werden sie warmgehalten. Dass Akkus sich bei Kälte selbst entladen, ist zwar nur ein Gerücht, aber ihre für Raumtemperatur optimierte Leistung sinkt. Es kann auch sein, dass ein kalt gewordener Akku in der Kamera Probleme macht. An einem der ersten Tage unserer Reise sprang die Akkustandsanzeige plötzlich von 80 % auf 60 %, und kurz darauf wurde das Display schwarz und der Akku schien leer zu sein. Der Ersatzakku funktionierte problemlos. Das sind aber kurzfristige Probleme der Elektronik, normalerweise ist der Akku nach dem Aufwärmen wieder einsatzbereit. Auch in unserem Fall war er dann wieder fast bei den ursprünglichen 80% und zeigte anschließend keine Ausfallerscheinungen mehr. Es ist in jedem Fall ratsam, mehrere Akkus dabeizuhaben, auch für andere Geräte. In unserem Fall waren es tatsächlich allein für die Kameras insgesamt neun Akkus – nicht nur wegen der angesprochenen Probleme, sondern auch, weil wir ja damit rechneten, unterwegs eine Woche lang keinen Strom zu haben – außer jenem, den die Solarpanels in den Sonnenstunden erzeugen.

Bei anderen Geräten ist auch mal ein Totalausfall möglich, das hängt von der Empfindlichkeit des Inneren ab. Reine Kunststoffgehäuse sind tendenziell anfällig. Der Kabelfernauslöser mit zwei AA-Akkus hat beim Versuch einer längeren nächtlichen Aufnahme nur wenige Minuten durchgehalten, und ebenso die Powerbank, welche die Objektivheizung betreiben sollte. Wieder aufgewärmt, funktionierte beides wie vorher.

Materialversteifung ist ein weiterer Punkt, den man nicht vernachlässigen sollte, der aber keine Gefahr darstellt, wenn du darauf achtest. Moleküle ziehen sich bei Kälte zusammen, saugfähige Materialien nehmen bei feuchter Luft außerdem Wasser auf und werden dadurch schwerer und bei Kälte fester. In unserem Fall hat sich beispielsweise die Schaumstoffummantelung des Stativs deutlich versteift. Dünne Scharniere haben bei Kälte eine erhöhte Bruchgefahr, du solltest also mit beweglichen Teilen wie den Klappen von Akku- und Speicherkartenfach an der Kamera besonders vorsichtig sein, wenn du sie draußen öffnen willst. Das ist aber erst bei wirklich tiefen Temperaturen relevant und wie gesagt bei etwas Vorsicht keine Gefahr.

Die größte Gefahr für die Fotoausrüstung ist jedoch nicht die niedrige Temperatur, sondern die hohe Temperaturdifferenz. So dankbar wir auch für die beheizbare Hütte waren, bedeutete sie doch Schwierigkeiten, die wir im Zelt nicht gehabt hätten. Jedes Mal hatten wir beim Betreten oder Verlassen der Hütte einen Temperaturunterschied von 40°C oder mehr. Das Verlassen der Hütte, vom Warmen ins Kalte, ist kein Problem. Wenn du aber mit einer kalten Kamera ins Warme kommst – und aus -30°C kommend ist auch 1°C warm –, kondensiert die warme Luft an der Kamera. Es ist dasselbe Prinzip wie eine Brille, die im Winter bei Betreten des Hauses beschlägt. Feuchtigkeit in der Kamera oder im Objektiv, ob in der Elektronik oder zwischen den Linsen, ist aber der größte Feind dieser Geräte. Zwei Tipps, um sie zu vermeiden:

  1. Zur Sicherheit solltest du draußen keine Objektivwechsel vornehmen. Wir hatten zwar drei Objektive für zwei Kameras dabei, aber nutzten unterwegs immer eine feste Kombi, während das dritte Objektiv in der Hütte blieb. So öffnest du im Freien nicht das empfindliche Innere der Kamera.
  2. Der klassische Tipp in den mittleren Breiten ist, nach einer Fototour im Winter den Fotorucksack erst einmal verschlossen in einem unbeheizten Flur oder dergleichen stehen zu lassen. Selbst wenn es einen solchen Flur gibt, reicht das aber nicht, wenn der Temperaturunterschied zu groß ist. Unser Tipp: Nimm verschließbare Gefrierbeutel mit, groß genug auch für die Kamera mitsamt Tele. Verpacke, bevor du das Haus betrittst, die gesamte Technik, die du dabeihattest, in einzelnen Tüten. Diese Tüten solltest du dann im Haus geschlossen liegenlassen, bis die Geräte temperiert sind – hier ist Geduld gefragt, das kann durchaus einige Stunden dauern. So kondensiert die warme Luft an der Tüte und nicht direkt an der Kamera. Mit dieser Methode hatten wir selbst bei hohen Temperaturunterschieden nie das Problem von Feuchtigkeit in der Kamera.

Mit diesen Tipps und unseren Erfahrungen kannst du in der Kälte fotografieren, ob im deutschen Winter oder in den Polarregionen. Viel Spaß dabei!

Fotografieren bei Minusgraden und Kälte
Autor

Hi! Wir sind Sarah und Korbinian und kennen uns schon seit Schulzeiten. Mittlerweile ist Sarah Biologin und Tauchlehrerin mit einer Vorliebe für Haie und fotografiert hauptsächlich unter Wasser, Korbinian ist Naturfotograf und -filmer und fotografiert eigentlich alles über Wasser und an Land. Zusammen ergänzen wir uns bestens und unternehmen als Abenteurer-Duo Reisen nach nah und fern, stets mit Tagebüchern großer Entdecker im Rucksack. Da uns der Umweltschutz besonders am Herzen liegt, reisen wir möglichst einfach und versuchen, in Projekten mit unseren Fotos, Berichten und Ergebnissen die Aufmerksamkeit auf aktuelle Probleme zu richten.

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