Einmal den arktischen Winter erleben, hoch oben am Polarkreis: Dieser Traum wird wahr, als wir im Februar in den finnischen Teil Lapplands reisen. Und weißt du was? Wir haben so viel mehr gefunden, als wir uns erträumt haben.

Der Traum vom Winter am Polarkreis

Ich habe alles angezogen, was ich dabei habe, und hocke wie ein Michelin- Männchen im tiefen Schnee.
Neben mir die Schneeschaufel, mit der ich die meterdicke Arbeit des Winters vom Eis geschaufelt habe. In meiner Hand die verrostete Axt, mit der ich noch viel tiefer vordringen muss. Durch die gefrorene Schicht, bis das Wasser dieser Quelle aus dem kristallblauen Eis nach oben gluckert.
Die Kanister stehen längst bereit, nur das Wasser gluckert eben nicht.
Genau genommen ist es noch nicht einmal in Sicht – die dicke Eiskruste macht keine Anzeichen, als würde sie bald unser Trinkwasser für die nächsten Tage nach oben sprudeln lassen.
Dabei sitze ich hier schon eine ganze Weile.
Wie lange genau?
Das weiß ich nicht, zumindest nicht in der Einheit von Minuten. Lange genug aber, dass meine Finger trotz all der Hiebe mit der Axt taub vor Kälte sind. Es hat minus 26 Grad.

Als ich überlege, ob die Quelle zu seicht und bis zum Grund zugefroren sein könnte, schleicht sich an anderer Gedanke in meinen Kopf. Es ist einer, der mich schon auf vielen Reisen in ähnlich aussichtslos scheinenden Situationen überrumpelt hat:

Was mache ich hier eigentlich?

Recht schnell versuche ich dann, diesen Gedanken mit einer plumpen Antwort abzuwimmeln.
Eine wie:
Äääh, im Winter eine Trinkwasserquelle nördlich des Polarkreises aufschlagen?!

Darauf folgt grundsätzlich ein zweiter Gedanke, dem es standzuhalten gilt:
Aber, WARUM?!

Zum Glück hat es bisher noch nie lange gedauert, bis ich auch diesen zweiten Störenfried mit einem triftigen Grund habe stumm schalten können. Auch jetzt habe ich einen: Gerade nämlich lebe ich meinen Kindheitstraum vom Winter am Polarkreis.

Winter am Polarkreis in Finnland

Ein Kindheitstraum wird wahr

In diesem Kindheitstraum ist die wilde Natur um mich herum von mindestens zwei Metern Schnee bedeckt, die Nadelbäume tragen weiße Hüte, der Himmel ist blau und die Luft klirrend kalt.
Und ich? Ich bin dick eingepackt wie ein Michelin-Männchen mittendrin, irgendwo nördlich des 66. Breitengrades.

Dort beginnt geografisch gesehen die Polarregion.

Diesen Traum lebe ich nun schon seit ein paar Tagen. Seit ich mit Felix – er ist mein liebster Reisegefährte und mittlerweile sogar mein Mann – im finnischen Oulu angekommen und den Mietwagen abgeholt habe.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich erwartet habe in einer Region, in der der Winter schon im November beginnt und gerne bis Mai dauern kann. Dass die Reifen unseres Mietwagens mit Spikes bedeckt sind und der Motor einen Stromanschluss für klirrend kalte Fahrpausen hat, das hat mich jedenfalls trotzdem überrascht.
Dabei habe ich zu diesem Zeitpunkt vom subarktischen Winter zwischen Schweden und Russland noch gar nichts erlebt.

Das aber sollte sich schon am ersten Tag und auf den ersten Kilometern ändern: dann nämlich, als wir die Insel Hailuoto im Meer westlich von Oulu nicht wie gewöhnlich mit der Fähre erreicht haben, sondern mit unserem Mietwagen über den gefrorenen Ozean gefahren sind.

Einstieg in den nordischen Winter: Auf der Eisstraße übers Meer

In der finnischen Kälte bildet sich auch auf den Meeren oft eine meterdicke Eisschicht. Dann werden die Fährverbindungen eingestellt und stattdessen Straßenschilder ins Eis gebohrt. Finnlands längste Eisstraße, die von Oulu nach Hailuoto, ist fast zehn Kilometer lang.
Auf jedem Einzelnen schlug mir das Herz bis zum Hals. Wenn wir das Fenster nach unten kurbelten, hörten wir das Eis unter den Reifen Knacken und Knirschen.
Gleichzeitig gibt es einige Sicherheitsregeln: Zum Beispiel mussten wir einen großen Abstand zu anderen Autos einhalten, damit die Last auf einer Stelle nicht zu groß wurde. Wir durften keinesfalls stehen bleiben, nicht überholen, niemals schneller als 50 Kilometer pro Stunde fahren.
Davon abgesehen?
„Eine ganz normale Straße“, sagten die Finnen, die wir auf der Insel voll mit Adrenalin und verschwitzen Händen auf die verrückte Anreise ansprachen.
Für uns aber war die Fahrt über das Meer so viel mehr als eine „ganz normale Straße“. Sie war der Beginn eines Kindheitstraums. Der Einstieg in den nordischen Winter. Und das, obwohl wir den 66. Breitengrad, den Beginn des Polarkreises und der Region Lappland, in Oulu und der Insel Hailuoto noch gar nicht überquert hatten.

Winter am Polarkreis

Die Magie des 66. Breitengrades

Allzu viele Orte gibt es auf der Welt nicht, an denen die Überquerung eines Breitengrades unübersehbar mit einem großen Schild an Ort und Stelle angekündigt wird. Abgesehen von ein paar Ausnahmen, wenn dieser Breitengrad eben nicht irgendeiner ist, sondern eine besondere Rolle spielt.
Nummer null zum Beispiel: der Äquator.
Und Nummer 66: der Polarkreis.
Beide Breitengrade können wir in besiedelten Gebieten kaum überqueren, ohne es zu merken: die Schilder am Straßenrand sind groß, manchmal überfahren wir sogar eine dicke, aufgemalte Linie.
Ziel erreicht, Breitengrad erreicht.

Auf der Straße von Oulu Richtung Norden ist es ähnlich: Stunde für Stunde, Kilometer für Kilometer nichts als Wald. Tannen und Fichten reihen sich lückenlos aneinander, tragen dicke Schneehüte. Kerzengerade führt die Strecke Richtung Lappland, und plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht zwischen all den Bäumen am Straßenrand ein Schild auf:
„Napariiri – Arctic Circle“.

Vielleicht bekommt ein Ort eine noch größere Bedeutung, wenn er mit einem Schild gekennzeichnet ist. Vielleicht hat es auch mit meinem winterlichen Kindheitstraum zu tun.
Was genau in diesem Moment der Auslöser war, weiß ich bis heute nicht. Jedoch sind mir genau dann, als ich begriffen habe, dass wir soeben nördlicher sind als der 66. Breitengrad, Freudentränen in die Augen geschossen. Ich habe das Fenster nach unten gekurbelt, mein Gesicht in den eisigen Fahrtwind gehalten, und habe arktische Abenteuerluft gerochen. Hoch oben im Norden trägt diese Luft Noten von Schnee, Kälte und Stille.
Plötzlich konnte ich es noch viel weniger abwarten, endlich in diese Winterwelt einzutauchen und von nichts anderem mehr umgeben zu sein.

Dafür hätten wir uns keinen besseren Ort aussuchen können: Über AirBnB haben wir eine kleine Hütte Mitten im Wald Lapplands gefunden, an einem kleinen, zugefrorenen See, weit nördlich des 66. Breitengrads. Im Winter gibt es dort keinen Strom, keinen Empfang, kein fließend Wasser.

Wie das Michelin-Männchen in meinem Traum

Und das bringt mich genau hierher: dick eingepackt wie ein Michelin-Männchen an diese Quelle im Wald. Neben mir leere Wasserkanister, in meiner Hand immer noch die verrostete Axt.
Ich lebe meinen winterlichen Kindheitstraum.

Wenn ich genau darüber nachdenke, unterscheidet sich die Realität gar nicht so sehr von diesem Traum.
Du erinnerst dich?
Meterhoher Schnee sollte es sein, Nadelbäume, die weiße Hüte tragen. Blauer Himmel, klirrend-kalte Luft. Und ich? Ich dick eingepackt mittendrin, irgendwo nördlich des 66. Breitengrades.
Meterhoher Schnee ist es auch, Nadelbäume, die weiße Hüte tragen. Zwar kein blauer Himmel, aber definitiv klirrend kalte Luft. Und ich? Ich dick eingepackt mittendrin, irgendwo nördlich des 66. Breitengrades.

Nur genau die Szene hat in meinem Traum gefehlt: dass ich bei -26 Grad mit einer Axt nach Trinkwasser schlage. Weil es für all die kommenden Tage nicht reichen würde, nach und nach mit unserem Gaskocher und am Feuer Schnee zu schmelzen.

An meinem Traum aber ändert diese Szene nichts. Ganz im Gegenteil. Wenn ich ehrlich bin, sind es genau solche Momente, die das Abenteuer für mich ausmachen und mich der wilden Natur ganz nahekommen lassen.
Ich genieße das Extreme, für eine Zeit zumindest.
Tage unter der sengenden Sonne in der Wüste, wenn ich nichts mehr herbeisehne als meterhohen Schnee und eiskaltes Wasser. Oder immerhin einen Schattenplatz.
Genauso genieße ich Tage in der arktischen Kälte, wenn ich für einen kurzen Moment nichts mehr herbei sehne als die Wüste und sengende Sonne.

Ich fühle mich lebendig. Frei. Angekommen. Am richtigen Platz. Im Hier und Jetzt.

Kurz muss ich über mich selbst lachen, wie ich hier sitze. Dann reibe ich kurz und schnell meine Hände aneinander, um meinen Fingern immerhin einen kurzen Wärmeimpuls zu geben, und mache mich wieder an die Arbeit mit der Axt.
Es braucht noch einige Schläge – auch welche von Felix, der in der Zwischenzeit das Brennholz unter der Schneedecke gefunden und zum Kamin gebracht hat – bis die Eisdecke unser Trinkwasser frei gibt.
Nach und nach füllen wir die Kanister, 15 Liter sind es insgesamt für die nächsten Tage, und bringen sie in die warme Stube.

Angekommen

Es ist ein einfaches Leben auf der Hütte im tief verschneiten Wald Lapplands. Wir haben nichts zu tun, außer uns und die Stube warm zu halten – und manchmal ist dieses Nichtstun die größte Herausforderung.

Die Umstellung vom Alltag in Deutschland zu dem in unserem kleinen Häuschen nördlich des Polarkreises könnte größer nicht sein.
Lange dauert es aber nicht, bis der Innere Ich-muss-doch-irgendwas-tun-Drang in pure Ruhe übergeht.
Dann sitzen wir morgens stundenlang mit Tee und Kaffee am Fenster und schauen den Schneeflocken beim Fallen zu. Wandern den ganzen Tag durch den verschneiten Wald, an Tagen, an denen die Erde und der Himmel genau dasselbe fahle Hellgrau angenommen haben. Wir ziehen zum ersten Mal auf Langlaufskiern durch den Winter. Sitzen den ganzen Abend vor dem Feuer, erzählen uns Geschichten und lauschen den Flammen.

Und gerade dann, wenn wir glauben, magischer könnte dieser Traum vom nordischen Winter nicht mehr werden, dann passieren die wahren lappischen Wunder.

Unser Nachbar, der Rentier-Hirte

Es klopft, vor der Tür steht Juri.
Juri trägt auf dem Kopf eine Fellmütze, darunter grinst mir sein freundliches Gesicht mit einer Zahnlücke entgegen. Juri sieht mit seinem knielangen Daunenmantel, ähnlich wie ich, aus wie ein Michelin-Männchen. Im Gegensatz zu mir ist er eins, das hier schon mindestens 60 eiskalte Winter gemeistert hat.

Es stellt sich raus, dass Juri unser Nachbar ist. Der nächste sogar, in Lappland- Maßstäben bedeutet das dennoch, dass zwischen unseren Häusern knapp zehn Kilometer stumme Natur liegen. Dass wir hier sind, wusste Juri trotzdem, weil der Vermieter unserer kleinen Hütte sein Freund ist.
Noch im Türrahmen lehnt Juri eine Tasse Tee ab: Er wollte nur sehen, ob wir gut zurechtkommen, ob wir glücklich sind, ob wir Hilfe bräuchten. Jetzt aber hätte er es eilig, weil seine Rentiere Hunger hätten.
Nach zwei fragenden Blicken von Felix und mir stellt sich raus, dass Juri Farmer und stolzer Besitzer einer ganzen Rentierherde ist. Die würde, wie es sich eben gehört, frei in den umliegenden Wäldern leben – im Winter aber müsse Juri immer wieder mal eine Ladung Heu ablegen.
Und das macht er heute.
Noch bevor er die Frage fertig formulieren kann, ob wir ihn auf seinem Schneemobil zur Herde begleiten wollen, haben wir uns in unsere Michelin- Jacken geworfen.

Minuten später teilen wir uns die Sitzbank von Juris Schneemobil. Der Motor rattert so laut, dass ich mir nach all den Tagen in der Stille plötzlich vorkomme wie ein Störfaktor.
Während ich mir kaum vorstellen kann, dass irgendein Rentier im Umkreis unseres Schalls übrig bleibt, ist Juri genau vom Gegenteil überzeugt:
„Es ist gut, dass wir so laut sind“, sagt er und blickt dabei nach hinten.
Viel zu lange, wenn man mich fragt, denn der Weg, auf dem er das Schneemobil gerade zwischen den Bäumen hindurch manövriert, ist eng und kurvig.
„Die Rentiere hören uns schon von Weitem. Und weil sie wissen, dass wir im Anhänger Heu haben, kommen sie extra zur Futterstelle.“
Ich nicke, Juri blickt wieder nach vorne.
Und er hat nicht zu viel versprochen. Gerade, als wir vom dichten Wald auf eine Lichtung abbiegen, spucken die Bäume die ersten Rentiere aus. Nach und nach erscheinen immer mehr Herden-Mitglieder auf der Lichtung. Zwar mit Sicherheitsabstand, aber neugierig genug, um uns in aller Ruhe zu beobachten.

Und dann tanzen Polarlichter am nordischen Himmel

Es gibt diese Momente, die für immer bleiben werden. Und dann gibt es welche, bei denen wir währenddessen schon wissen, dass es so sein wird.
Das sind die Besten.
Der Tag mit Juri und seinen Rentieren gehört dazu.
Und der wurde am Abend sogar noch viel besser.

Während Felix das Feuer in unserer Hütte schürt, hole ich draußen Brennholz- Nachschub. Und dann sehe ich sie zum ersten Mal. Grüne Flammen, die am Himmel tanzen. Polarlichter.
Nach einem grauen Tag sind die der einzige Farbklecks. Doch auch abgesehen davon sind die ein Phänomen, an das sich unsere Augen erst gewöhnen müssen. Sie sind so vieles zugleich.

Unheimlich, magisch. Faszinierend und wunderschön.

An diesem Abend tanzen die Polarlichter eine ganze Weile lang über unserer kleinen Hütte im Wald nördlich des 66. Breitengrades. Lange genug, dass wir uns in der Zwischenzeit heißen Tee nach draußen nehmen können, um trotz der Kälte keine Minute dieses Schauspiels zu verpassen.
Während Grün und Lila über den ganzen Himmel tanzen, wird mir eines klar: Polarlichter habe ich mir in meinem winterlichen Kindheitstraum nie zuvor ausgemalt. Auch nicht die Schneemobil-Fahrt mit einem Rentier-Hirten. Genau solche unerwarteten, spontanen und nicht planbaren Momente sind es aber, die die Wirklichkeit so viel schöner machen als jeden Traum.

Polarlichter Finnland
Autor

Hi, ich bin Franziska, Autorin und Abenteuerin. Eine meiner ersten Reisen führte mich kurz nach meinem 18. Geburtstag mit Beduinen durch die Sahara – irgendwo dort in den Sanddünen habe ich mein Herz für die Welt verloren. Auf der Suche nach fremden Kulturen und echter Wildnis reise ich seither durch diese. Ich freue mich, dich mit auf meine Abenteuer zu nehmen!

6 Kommentare

  1. Faszinierend schön. Und die Rentierherde 😍😍😍
    Diese tollen Geschichten sind ein Lichtblick im sonst so trist gewordenen Corona-Alltag. Danke dafür!

    • Franziska Antworten

      Ich freu mich, dass ich dich (zumindest im Kopf) nach Lappland mitnehmen durfte! Bald wird hoffentlich auch der Alltag wieder bunter 🙂
      Ganz liebe Grüße, Franziska

  2. So schön! Obwohl ich gerade den Frühling herbeisehne, dieses Jahr hatten wir genug Schnee 🙂 , könnte ich mir gerade nichts schöneres vorstellen als ein paar Wochen in einer abgeschiedenen Hütte zu verbringen. Die skandinavischen Länder habe ich immer mit Sommerurlauben verbunden und dabei kam es mir nie in den Sinn, dass diese auch im Winter ein lohnenswertes Ziel sein könnten. Gleich mal auf die Liste gesetzt! ❤️

    • Franziska Antworten

      Liebe Britta,
      ich freue mich sehr, dass es Skandinavien im Winter auf deine Liste geschafft hat! Und ich kann dir versprechen: das lohnt sich wirklich und ist eine unvergessliche Erfahrung. Vielleicht ja nach Frühling und Sommer, wenn du erst mal wieder genug Sonne tanken konntest… 🙂
      Ganz liebe Grüße, Franziska

  3. OMG! Ich träume… Ich träume von genau so einer Reise. Danke, dass ich ein wenig davon durch deine Augen erleben durfte. Ich habe beim Lesen die Kälte und Faszination spüren können.

    • Franziska Antworten

      Liebe Maike,
      wie schön, dass ich dich mit nach Lappland nehmen durfte! Das freut mich ehrlich sehr. Gleichzeitig drück ich dir die Daumen, dass du deinen Traum bald verwirklichen kannst. In Echt ist er nämlich noch viel viel schöner! 🙂
      Alles Liebe, Franziska

Kommentar hinzufügen